Das Telegramm.

Humoreske von

Freiherr von Schlicht
in: „Iserlohner Kreisanzeiger” vom 9.10.1926,
in: „Altenaer Kreisblatt” vom 9.10.1926,
in: „Welt und Wissen”, Unterhaltungsbeilage der „Westfälischen Zeitung” vom 9.10.1926,
in: „Lippische Tageszeitung” vom 14.10.1926,
in: „Wittener Tageblatt” vom 18.10.1926,
in: „Ratinger Zeitung” vom 26.10.1926

Anmerkung der Schriftleitung: der am 4.Ok-
tober aus dem Leben geschiedene bekannte Schrift-
steller hat uns die nachstehende Humoreske kurz vor
seinem Tode übermittelt.


Rechtsanwalt Doktor Degenhardt stand im Begriff, seinen kurzen Erholungsurlaub anzutreten, von dem ihm ohnehin schon ein Tag dadurch verloren gegangen war, daß er gestern im letzten Augenblick von seinem Büro in einer wichtigen Sache angeklingelt wurde, weshalb er sich trotz allen Widerspruchs seiner jungen Frau, mit der er seit fünf Jahren verheiratet war, entschlossen hatte, seine Abreise um 24 Stunden zu verschieben. Heute wollte er aber wirklich fahren. Der Wagen stand schon vor der Tür, und voller Ungeduld wartete er nun in dem kleinen Vorgarten auf seine Frau, die ihn wenigstens zur Bahn bringen wollte, da sie trotz alller Bitten nicht zu bewegen gewesen war, ihn auf seiner Reise zu begleiten. Sie hatte immer wieder betont, abgespannt und überarbeitet wie er es sei, wäre es für seine Erholung besser, wenn er einmal allein bliebe. Schließlich hatte er sich diesem Wunsche gefügt, obgleich es ihm nicht leicht wurde, denn zu Hause hatte er doch eigentlich so gut wie nichts von seiner Frau; vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß er in seinem Büro und, auch wenn er endlich nach Hause kam, hatte er oft moch stundenlang zu arbeiten.

Aber wo seine Ilse nur blieb? Es wurde allmählich Zeit, zur Bahn zu fahren. Das Klingeln eines Rades ertönte, so daß er sich unwillkürlich umsah und nun einen Depeschenboten bemerkte. — „Sie wollen doch nicht etwa zu mir?” erkundigte er sich erschrocken, da er befürchtete, daß es sich um irgendeine Prozeßsache handle, die seine Abreise erneut verschieben könne. Aber gleich darauf beruhigte er sich wieder, denn alle geschäftlichen Telegramme wurden seinem Büro zugestellt. Es konnte sich also nur umm irgendeine private Mitteilung handeln. So öffnete er denn das telegramm und las: Eintreffe wie schon geschrieben vormittags 11,24 Uhr. Bitte erneut, mich Bahnhof abholen. Rudi.

Wer war Rudi? Und wie kam dieser ihm gänzlich unbekannte Rudi dazu, ihm zu telegraphieren und dabei auf einen Brief Bezug zu nehmen, den er gar nicht erhalten hatte? Sollte die Depesche etwa für seine Ilse bestimmt sein? Aber die kannte doch auch keinen Rudi, wenigstens hatte sie ihm nie von einem solchen erzählt, ebenso hatte sie mit keiner Silbe erwähnt, daß sie heute einen Rudi erwarte.

Da wurde plötzlich ein Gedanke, nein ein Argwohn in ihm wach, den er selbst ungehuerlich fand, den er jedoch nicht wieder los wurde. Die Eifersucht war in ihm erwacht, und er glaubte, nun manches zu verstehen: die freudige Ueberraschung seiner Frau, als er ihr mitteilte, er habe sich entschlossen, Urlaub zu nehmen — ihre Weigerung, ihn auf seiner Reise zu begleiten — das, wie es ihm jetzt vorkam, übertriebene Bedauern, das sie gestern zeigte, als er seine Abreise verschieben mußte, sowie die oftmalige Frage, ob er heute nicht lieber schon mit dem Morgenzug um 8 Uhr fahren wolle, wenn er da auch nicht immer einen D-Zug benutzen könne. Für das alles fand er nun eine Erklärung, und die hieß Rudi. — Wer war dieser Rudi? Er erneuter Blick in das Telegramm zeigte ihm, daß es in Stuttgart aufgegeben war. Wohnte dieser Rudi ständig dort, und wie kam er überhaupt dazu, ihr zu telegraphieren, und wieviele Briefe mußten außer dem in der Depesche erwähnten schon zwischen den beiden hin und her gegangen sein?!

Im Vorflur des Hauses hörte er die Stimme seiner Frau, die mit dem Mädchen sprach. Schnell verbarg er das Telegramm in der Tasche. Gleich darauf trat Frau Ilse in den Garten und nahm im Wagen neben ihm Platz. — „Wir haben noch reichlich Zeit, Ilse, sogar so viel, daß ich auf dem Bahnhof noch einen alten Korpsbruder begrüßen kann, von dem ich vorhin ein Telegramm erhielt, daß er auf der Durchreise unsere Stadt passieren und sich sehr freuen würde, mich zu sehen. Sein Zug kommt auf demselben Bahnsteig an, von dem der meine abfährt. Sein Zug komm 11,24 Uhr, meiner geht erst 11,36 Uhr,da kann ich ihm also noch guten Tag sagen.”

Er bemerkte ganz deutlich, wie seine Frau erschrak, als er die Zeit 11,24 Uhr nannte, und wie ein leises Zittern sie befiel. Sie versuchte auch vergebens ihrer Stimme einen festen, ruhigen Klang zu geben, als sie entgegnete: „Du hast mir doch erklärt, Dein Zug ginge schon 11,16 Uhr, da kann er jetzt doch nicht plötzlich 20 Minuten später gehen.”

Er wußte natürlich selbst am besten, wie recht sie damit hatte; dennoch sagte er ganz gelassen: „Du hast mich falsch verstanden, Ilse. ich betonte, daß der Zug nach dem alten fahrplan 11,16 Uhr gegangen wäre, daß er aber nach dem neuen Kursbuch 20 Minuten später abgehen würde. Entsinnst Du Dich nicht?”

Nein, darauf konnte sich seine Ilse natürlich unmöglich besinnen, das sah er ihr auch deutlich an; gleichviel stimmte sie ihm rasch bei: „Ja, ja, es scheint mir so — aber trotzdem, Harald, wird es nicht zu spät für Dich werden, wenn Du Deinen Freund noch begrüßen willst? Der D-Zug, den Du benutzen mußt, läuft doch immer schon vollbesetzt aus Berlin ein.”

„Na, so schlimm wird es nicht werden,” beruhigte er sie, „nötigenfalls nehme ich mir Zuschlag zur zweiten Klasse.”

Einen Augenblick herrschte zwischen ihnen Schweigen, und deutlich las er in ihren Zügen die Angst, daß der Rudi, den sie erwartete, gleich auf sie zueilen würde, bevor es ihr gelungen wäre, ihn so lange wieder fortzuschicken, bis Haralds Zug abgefahren sei.

Inzwischen hatte Harald einen neuen Einfall; er blickte in das verstörte Geischt seiner Frau und fragte unverwandt: „Was ist Dir nur, Ilse? Ich sehe erst jetzt, wie blaß Du bist. Fühlst Du Dich nicht wohl, und willst Du nachher lieber gleich wieder nach Hause fahren, anstatt mich bis zum Zuge zu begleiten?”

Frau Ilse haschte nach seiner Hand: „Ach ja, Harald, wenn Du mir das erlaubtest — ich fühle mich heute gar nicht wohl — ich wagte nur nicht, es Dir zu sagen, damit Du es nicht etwa als Unfreundlichkeit auffassen könntest, wenn ich gebeten hätte, zu Hause bleiben zu dürfen. Aber wenn Du nichts einzuwenden hast, daß ich nachher gleich zurückfahre — —”

„Aber natürlich, selbstverständlich, Ilse.”

Sobald sie den Bahnhof erreicht hatten, verabschiedete er sich von seiner Frau. Er selbst aber ging auf den Bahnsteig, um auf den Stuttgarter D-Zug zu warten und sich die aussteigenden Reisenden anzusehen. — —

Ein paar Stunden später betrat er wieder sein Haus, und Frau Ilse, die unterdessen ihren Besucher erwartet haben mochte, stieß unwillkürlich einen kleinen Schrei aus, als plötzlich ihr Mann vor ihr stand, der, noch bevor sie eine Frage an ihn hätte richten können, erklärte: „Denke Dir nur, Ilse, ich habe in dem Gedränge meinen alten Korpsbruder gar nicht getroffen und dabei habe ich auf seinen Zug, der große Verspätung hatte, so lange gewartet, daß ich darüber meinen eigenen Zug verpaßte. Na, zuerst war ich wütend. Aber weißt Du, wen ich dann plötzlich zu meiner Freude auf dem Bahnsteig entdeckte? Den jungen hübschen Studenten, der sich uns im vorigen Jahr an der Ostsee anschloß, der soviel mit uns zusammen war und Dir in so ritterlicher und beinahe noch kindlicher Weise den Hof machte. Na, unsere gegenseitige Ueberraschung kannst Du Dir vorstellen. Besonders er war zuerst ganz sprachlos; aber nicht nur das, er stand da, als hätte er mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, ohne daß ich mir das zu erklären vermocht hätte, bis er mir dann dafür, als wir zusammen frühstückten, die Aufklärung gab.”

„Ihr habt zusammen gefrühstückt?” kam es tonlos über Frau Ilses Lippen.

Harald lachte lustig auf: „Und ob, Ilse! Alles was gut und teuer war. Sogar Burgunder haben wir zusammen getrunken, und als das schwere Getränk Deinem Verehrer die Zunge gelöst, da hat er es mir gestanden. Er war über die Begegnung mit mir zuerst so erschrocken, weil er gehofft hatte, eine junge schöne Frau, die er darum gebeten, würde ihn an der Bahn abholen, und weil es ihm der Dame wegen natürlich sehr unangenehm gewesen wäre, wenn ich ihn mit der zusammen gesehen hätte. Ganz klug bin ich aus der konfusen Geschichte nicht geworden; nur soviel habe ich begriffen, daß er die andere junge Frau ebenso rein und platonisch liebt und verehrt wie Dich und daß er nicht daran gedacht hat, mit ihr hier irgendein Unrecht zu begehen, sondern daß er nur ein paar Tage in ihrer Gesellschaft weilen wollte, um sie einmal wieder zu sehen. Na, ich habe ihn so gut getröstet, wie ich nur konnte, aber auch so ernst und, beinahe hätte ich gesagt, väterlich mit ihm gesprochen, daß er sich dafür beim Abschied immer wieder bei mir bedankte und mir gelobte, sich, wenn auch in unschuldigster Weise, nie wieder hinter dem Rücken ihres Mannes zu schreiben. Aber dabei klang seine Stimme so traurig, daß er mir beinahe leid tat.”

Voll atemloser Spannung hatte Frau Ilse ihrem Mann zugehört. Wußte er wirklich nicht, wer die junge Frau war, die der Student hier hatte besuchen wollen, oder war er nur so zart und feinfühlend, ihr das nicht zu sagen, weil er aus allem erfahren haben mußte, daß er keinerlei Grund hatte, irgendwie eifersüchtig zu sein, zumal sie selbst nie daran gedacht hatte, ihm untreu zu werden. Aber die Briefe des jungen Studenten, in denen er sie wie eine Heilige anschwärmte und verehrte, und die Briefe, die sie ihm selbst geschrieben, waren ihr in den vielen Stunden des Alleinseins eine Zerstreuung gewesen, und sie hatte diesen harmlosen Briefwechsel als ein unschuldiges Geheimnis betrachtet, dem sie nach ihrer Meinung die Poesie genommen hätte, wenn sie ihrem Manne auch nur etwas davon erwähnt haben würde.

Da erklang die Stimme ihres Gatten: „Und nun muß ich Dir noch etwas Komisches erzählen, Ilse. Denke Dir nur, wenn ich den jungen Menschen auch gleich auf den ersten Blick wiedererkannte, so konnte ich mich doch nicht auf seinen Namen besinnen, und ihn danach fragen mochte ich erst recht nicht. Aber sicher kannst Du mir da helfen. Wie heißt er eigentlich?”

Wußte ihr Mann auch das wirklich nicht, oder wollte er sie durch diese Frage irgendwie auf die Probe stellen? Jedenfalls war sie es ihm, der in diesem Augenblick gegen sie die Güte selbst war, schuldig, ihm zu beweisen, daß diese kleine Episode ihres lebens nun auch für sie allzeit der Vergangenheit angehörte; und deshalb sagte sie jetzt, ihm offen und frei in die Augen sehend: „Er heißt — aber nein,” verbesserte sie sich gleich darauf mit absichtlich starker Betonung: „Er  h i e ß  Rudi.”


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© Karlheinz Everts